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Musik entdeckt - und immer einen Schritt voraus

Der Tod ist uneinholbar; im Leben stets präsent, entrinnt er uns doch im schwindenden Bewußtsein unserer Todesstunde. Mit dem seelenerkundenden Musiktheater Goethes Erben, das auf den festen Kern von Oswald Henke und Mindy Kumbalek zusammengeschrumpft ist, geht es uns in gewisser Weise ähnlich. Das, was sie uns in Hülle und Fülle bieten, ist schon nicht mehr aktuell, ist nur eine Episode im sprudelnden Quell nimmermüder Kreativität. Eigentlich wollte ich mit den beiden über "Leben im Niemandsland", ihrem neuen Live-Album sprechen, das mit einigen Überraschungen aufwartet und weitaus musikalischer ist als alles, was sie bisher veröffentlicht haben (s. auch Plattenkritik in dieser Ausgabe). Doch dazu mußte ich sie erst einmal aus der Zukunft reißen. Denn Oswald und Mindy planen bereits ganz neue Projekte. Goethes Erben über ihr Gestern, Heute und Morgen.

Goethes Erben haben seit 1990 jedes Jahr zwei Tonträger herausgebracht. Dieses Jahr sind es mit "Die Brut", "Leben im Niemandsland" sowie der bereits angekündigten "1. Kapitel" drei, und eigentlich sollten es mit dem letzten Teil eurer Trilogie sogar vier werden. Was steckt hinter dieser Veröffentlichungswut.

Oswald: Keine Wut. Eigentlich waren nur zwei Alben geplant, wie in den anderen Jahren auch, und zwar "Die Brut" und der letzte Teil der Trilogie "Tote Augen sehen Leben". Das "1. Kapitel" enthält die ersten beiden Tapes, die wir gemacht haben. Die sind schon seit langem vergriffen und man hat uns immer wieder gefragt, ob es die nicht wieder geben könnte. Und da ich mich weigere, wieder auf Tape umzusteigen, dachte ich mir, sie als eine CD zu einem besonders günstigen Preis herauszugeben. Allerdings wird sich die Veröffentlichung bis Ende des Jahres verzögern, weil noch einige vertragliche Dinge mit "Danse Macabre" abgeklärt werden müssen, bei denen die beiden Tapes ursprünglich aufgenommen worden waren. "Leben im Niemandsland" sollte ursprünglich erst nach der Trilogie erscheinen, weil es bearbeitete Stücke der gesamten Trilogie repräsentiert.

Warum habt ihr diese Planung verworfen, gab es Verzögerungen beim Abschluß der Trilogie ?

Oswald: Nein. "Tote Augen sehen Leben" ist so gut wie fertig. Es gab zwei Gründe das Live-Album vorzuziehen. Zum einen haben wir hier das erste mal mit einem Produzenten gearbeitet und es standen zusätzliche Musiker auf der Bühne. Man hört damit ganz neue Aspekte in der Musik von Goethes Erben. Zum anderen wollten wir uns bei den Leuten bedanken, die auf diesen speziellen "Niemandsland"-Konzerten waren. Wenn wir das Live-Album jetzt nicht herausgebracht hätten, wäre es später in der Erinnerung dieser Leute ziemlich schemenhaft gewesen. Ich denke man sollte etwas, das man live gemacht hat, möglichst schnell auf den Markt bringen. Dadurch verschiebt sich die Veröffentlichung von "Tote Augen sehen Leben". Ich schätze, daß sie spätestens im Februar '94 herauskommen wird.

Wie läuft bei euch eigentlich die Zusammenarbeit von Textung und Komposition ? Du Oswald, hast mal gesagt, daß du Mindy vollkommen freie Hand bei der Musik läßt. Und du Mindy betonst, daß du deine Musik ausschließlich für dich selbst machst. Das kann doch aber nicht heißen, daß es zwischen den beiden Komponenten Text und Musik keine Berührungspunkte gibt. Wie entstehen eure Stücke und wie stimmt ihr euch ab ?

Oswald: Die Stücke entstehen sehr unterschiedlich. Aber es stimmt, Mindy und ich arbeiten zunächst einmal zum größten Teil getrennt. Das heißt, ich schreibe meine Texte und Mindy sammelt musikalische Ideen. Dann kommt es zu dem Punkt, wo ich Mindy einen Text oder Textzyklus übergebe und sie bitte, sich damit auseinanderzusetzen und zu sehen, wie sie das musikalisch umsetzen würde. Mindy beginnt dann mit einer Art Stoffsammlung, und wenn sie dann bestimmte Grundstrukturen oder musikalische Passagen entwickelt hat, setzen wir uns zusammen und machen gemeinsam das Arrangement. Die Musik wird praktisch genau auf den Text, auf seine Aussagen und Inhalte zugeschnitten.

Deine Texte sind aber nicht immer gerade leicht zu verstehen. Kommt es da nicht auch zu Diskussionen über die richtige Interpretation ?

Oswald: Ja klar. Mindy ist wahrscheinlich die einzige, die fast alle Hintergründe der Texte kennt. Natürlich fragt sie nach, wenn ich ihr etwas zu Verschlüsseltes vorsetze. Ohne diesen Austausch könnte Goethes Erben nicht funktionieren.

Mindy: Meistens ist es so, wie Oswald sagt, aber es gibt auch Ausnahmen. Einige Stücke entwickele ich allein und Oswald findet dann einen Text, der gut dazu paßt. Manchmal, allerdings sehr selten, kommt es auch vor, daß Oswald einen neuen Text zu einer fertigen Musik schreibt.

Oswald: Das Textschreiben ist kein starrer Vorgang. Das Thema ist zwar gegeben, aber die konkrete Ausarbeitung ist flexibel. Die Rhythmik der Sprache muß ja auch zur Musik, zur Taktfolge des Drumcomputers oder des Klaviers passen. Bei dem Stück "Zinnsoldaten" zum Beispiel hat Mindys Musik im Refrain einen speziellen spanischen Touch, der mich auf die Textzeilen mit dem Arena-Szenario gebracht hat.

Kommen wir zu eurer neuesten Veröffentlichung, "Leben im Niemandsland". Was sich bisher nur zaghaft andeutete, manifestiert sich auf diesem Live-Album sehr deutlich. die Musik hat nicht nur einen größeren Anteil am Gesamtgeschehen erlangt, sie ist auch wesentlich komplexer geworden, ohne die Texte in die Zweitrangigkeit abzudrängen. War das ein Zugeständnis an die Musikerin Mindy, ist es eine Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung oder ist das Ganze nur ein Experiment ?

Oswald: Der Text steht bei Goethes Erben immer an erster Stelle. Aber wir entwickeln uns in unserer langjährigen Zusammenarbeit immer weiter. Mindys kompositorischen Fähigkeiten haben sich um einiges verbessert, und auch mein Schreibstil hat sich verändert. Von daher ist das eine ganz normale Entwicklung. Einen großen Einfluß auf "Leben im Niemandsland" hatte auch Vladimir Ivanoff. Er ist klassisch ausgebildeter Musiker und Musikwissenschaftler und er hat uns dazu angeregt und dabei unterstützt, mehr Ebenen in unsere Musik einzubauen.

Kann man erwarten, daß ihr diesen klassischen, sehr komplexen Stil beibehaltet ?

Oswald: Also bei Goethes Erben kann man gar nichts erwarten! Demnächst werden die Leute sehr verdutzt über uns sein, was sie von uns zu Gehör bekommen. Während in "Niemandsland" klassische Instrumente inden Vordergrund gerückt wurden, werden wir bei unserer Herbsttour von Ende Oktober bis Mitte November ausschließlich mit Industrial-Elementen arbeiten. Es wird zum Teil sehr laut und sehr schnell werden, und wir werden die Kerzen gänzlich von der Bühne verbannen, weil sie nicht zu dieser Musik passen. Wir wollen weg vom Konzerterlebnis und hin zu mehr Theateratmosphäre. Dieses Programm wird "Ein Abend in Blau" heißen, und es zum größten Teil völlig neues Material.

Dann eilt ihr ja euren Veröffentlichungen um Meilen voraus. "Niemandsland" muß verdaut werden, der Trilogie-Schluß ist fast fertig, aber noch nicht erhältlich, und ihr habt schon wieder neues im Zauberhut ...

Oswald: Ja, wir eilen wirklich voraus. "Niemandsland" war ein sehr schönes Erlebnis für uns. Wir haben mit vielen Gastmusikern gearbeitet, die zum Teil wesentlich älter waren als wir. Und trotzdem hat die Zusammenarbeit sehr gut geklappt. Aber wenn wir sechs, sieben Konzerte in einer Stilrichtung gegeben haben, wollen wir etwas neues machen. Das ist unser Anspruch an die eigene Entwicklung. Bei "Abend in Blau" konzentrieren wir uns wieder auf eine Dreierbesetzung, mit Troy von Catastrophe Ballet als einzigem Gastmusiker, der elektrische, akustische Gitarre und Bass spielen wird. Die Musik wird generell härter, und wir sind sehr gespannt, wie das Publikum darauf reagieren wird.

Wenn du, wie du sagtest, so viel Wert auf die Stimmigkeit zwischen Musik und Text legst, dann müßten sich damit auch deine Texte wesentlich verändern.

Oswald: Ja und Nein. Es ist eine Frage der Sichtweise. Wir interpretieren einfach etwas neu. "Niemandsland" war eine Traumreise, die einen in die eigene Psyche gebracht hat. "Blau" präsentiert eine reale Handlung, in der auch einige ältere Texte im neuen musikalischen Gewand Platz finden. Es geht um einen Soldaten, der aus dem Gefangenenlager flüchtet. Auf dieser Flucht ziehen vor seinem inneren Auge noch einmal alle erlebten und von ihm selbst angerichteten Greuel vorbei, und er flüchtet schließlich vor seinem eigenen Gewissen in den Wahnsinn. Mit "Blau" haben wir die bisher dichteste Dramaturgie geschaffen.

Mindy, du hast einmal gesagt, daß du am liebsten allein die musikalische Regie führst, weil du schlechte Erfahrungen mit anderen Musikern gemacht hast. Mit "Niemandsland" wurdest du gleich mit beidem konfrontiert, mit insgesamt fünf zum Teil charismatischen Musiker(inne)n und mit Vladimir Ivanoff als Keyboarder bzw. Arrangeur. Hast du sehr gelitten ?

Mindy (lacht): Nee, gar nicht. Ich habe auf der Tour das gespielt, was ich auch sonst immer live spiele. Die anderen Instrumente, deren Partituren Vladimir komponiert hat, sind dazu gekommen. Am Anfang war ich etwas skeptisch, weil ich nicht wußte was bei den neuen Arrangements herauskommt. Aber ich habe bald Vertrauen gewonnen: das sind alles professionelle Musiker, auf die man sich verlassen kann. Zu Beginn der Proben war ich ein wenig ängstlich, aber es hat alles gut geklappt. Bis zum Konzert war unsere Zusammenarbeit perfekt, und da wußte ich, daß es gut werden konnte - und so ist es auch geworden.

Oswald, deine Texte und mehr noch deine Stimme standen bisher allein im Vordergrund. Nun bist du auf "Niemandsland" Teil einer größeren Maschinerie, singst erstmals richtige Melodien ("Endlich merkt das mal jemand" wirft Oswald lachend ein) und du läßt sogar mit der klassischen Sängerin Rose Bihler-Shah eine zweite Stimme zu. Was hat dich dazu bewogen. Wolltest du nicht mehr alein im Vordergrund stehen ?

Oswald: Durch Ivanoff bot sich uns die Möglichkeit, ein Orchester einzusetzen, und das haben wir genutzt. Dadurch konnten wir mehr Theatralik ins Spiel bringen. Das ist mit vielen Leuten auf der Bühne einfacher. Mindy verschwindet hinter einer Burg von Keyboards und kann so nicht viel zur Bühnendynamik beitragen. Wir wollten für Niemandsland die Musik als "beweglichen Hintergrund" darstellen. Mit einer zusätzlichen Sängerin und einem Geiger, der sich beim Musizieren sehr viel mehr bewegt als jemand am Keyboard, hatten wir mehr Ausdrucksmöglichkeiten. Wir haben jahrelang zu zweit oder zu dritt zusammengespielt und wollten einfach etwas neues ausprobieren. Das war eben das "Niemandsland"-Experiment mit klassischen Musikern. Es ist nur dadurch möglich geworden, daß wir Ivanoff kennenlernten. Er hatte sich angeboten, mit uns etwas zusammen auf die Beine zu stellen. Er war der Meinung, daß auf unseren Tonträgern im Vergleich zu den Livedarbietungen die Stimmung zu kurz kommt. Und so haben wir diese Liveauftritte auf Tonträger gebannt.

Ich habe den Eindruck, daß du den Dialog mit dem Publikum suchst. Wie wollt ihr das auf eurer "Blau"-Tour realisieren, auf der es doch wesentlich technischer zugehen wird ?

Oswald: Die Herbst-Tour wird nicht so dialogfreudig werden wie die "Niemandsland"-Tour, das kann ich jetzt schon sagen. "Blau" wird wie eine proklamierte Lesung ablaufen. Zum Teil ist dieses neue Konzept auch eine Reaktion auf eine bestiimte Sorte von Publikum, das nicht reif genug ist für stille, kammermusikalisch inszenierte Konzerte.

Diese Leute unterhalten sich über Gott und die Welt und fassen ein solches Ereignis als Rahmen für ihren nichtssagenden Smalltalk auf.

Das hat mich und auch Mindy schon einige Male ganz schön geärgert. "Blau" wird andere Töne anschlagen, und manche Leute werden schockiert sein.

Deine Texte machen auf mich immer einen sehr ausgereiften, wohlüberlegten Eindruck. Wer (außer Goethe) sind deine Inspiratoren ?

Oswald: Noch nicht einmal dieser. Ich lese so gut wie überhaupt nicht und habe mich nur sehr wenig mit Literatur befaßt. Was ich schreibe kommt ganz allein aus meinem Kopf.

Mit welchem lyrischen Satz würdest du die Trilogie insgesamt umschreiben ?

Oswald (lacht und überlegt eine Weile): Augen sterben im Traum.

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